Entkräftigungsversuch des Totschlagarguments

Essay, 2014

„Das kann meine 4-jährige Enkeltochter auch!“

Entkräftigungsversuch des vielzitierten Totschlagarguments (von einer Künstlerin)

 

Zuletzt habe ich diesen Satz vor 2 Wochen im Belgien-Urlaub, im Museum für zeitgenössische Kunst in Gent, gehört. Er kam aus dem Mund meiner Schwester. Sie ist hervorragend gebildet, Kunst- und Design-interessiert und kennt – da meine Schwester – ja sogar immerhin eine Künstlerin näher. Sie kennt meine Arbeiten und den Kampf mit der Freiberuflichkeit und trotzdem dieser Satz. Gut, ich muss zugeben, ich habe gelogen… sie sprach nicht von ihrer Enkeltochter, zwei Generationen wären in ihrem Alter kaum schaffbar gewesen…

 

Trotzdem also der Gedanke, dass für ein Werk, wie das im belgischen Kunstmuseum, kein Studium und keine Erfahrung nötig seien und dazu die implizite Aussage, dass man den Raum auch sinnvoller hätte füllen können.

 

Überhaupt kein Problem, ist ja auch nachvollziehbar. Schließlich handelt es sich – lapidar ausgedrückt – lediglich um in rechteckiger Form, von etwa zehn mal zwei Metern, auf dem Fußboden angeordnete Holzstücke. Die banale Beschreibung ist meiner Ansicht nach auch völlig in Ordnung. Zuviel Gewese muss nicht sein – und das Ganze wäre ja auch bloß, weil Dinge dann wichtiger klingen. Trotzdem hier noch einige wenige Ergänzungen, der besseren Vorstellung wegen: das Werk stammt von Richard Long, der schon viele ähnliche Arbeiten anfertigte; die Holzstücke sind keine genormten Baumarktholzstücke, sondern wirken eher wie über die Zeit von der Natur rundgelutscht; die Holzstücke wirken nicht willkürlich über eine rechteckige Grundfläche verteilt – dafür sind die Abstände untereinander zu ausgewogen.

 

Das machen nur so Künstlertypen

[Eine(r) muss es ja machen!]

Die Knackpunkte liegen also ganz woanders. Erst einmal sei dahingestellt, dass die vier-jährige Enkeltochter Holzstücke in einen riesigen Raum tragen und dort arrangieren würde. Sie würde das sehr wahrscheinlich nicht tun. Nicht, weil es sich um ein Museum handelt und die Werke einer vier-jährigen dort vielleicht nicht gezeigt würden. Auch nicht, weil es darum gehen könnte, dass alltägliches Material durch musealen Kontext zu Kunst erhoben werden könnte und sie das vielleicht vermeiden wollte… Nein, einfach weil das vier-jährige Mädchen die Stücke wohl woanders ausbreiten würde – vermutlich einfach gleich da, wo sie sie gefunden hätte oder in ihrem Kinderzimmer – und aber sicher auch nicht so viele Stücke, denn sie hätte vorher gar keine Lust gehabt, sich so akribisch der Sammlerei und Anordnerei zu widmen. Und das gilt oft nicht nur für vier-jährige Enkelkinder. Es kann also festgehalten werden: sowas macht keiner, außer so Künstlertypen.

 

Und kennen Sie die (Kinder-)Geschichte von Frederick der Maus?

Alle Mäuse sammeln den Sommer über Vorräte für den Winter. Nur Frederick hilft nicht! Den anderen Mäusen erklärt er schließlich, dass er Sonnenstrahlen, Farben und Wörter für den Winter sammelt. Die anderen Mäuse halten ihn vermutlich für einen faulen Zeitgenossen, der Ausreden für sein Nichtstun erfindet. Doch dann, im kalten, grauen Winter, als alle Vorräte aufgebraucht sind und die Stimmung düster ist, sind sie froh und voller Achtung für ihren Mauskollegen, der Ihnen nun allerhand aufheiterndes und wärmendes zu erzählen hat.

 

Forschergeist

Was so Künstlertypen auch oft liegt, ist das Forschen und Experimentieren. Das beginnt oft mit einem Sich-treiben-Lassen oder mit akribisch-genauem Vorgehen: „wenn ich jetzt gaaanz lange mit der immer selben Bewegung mit einem Filzstift auf einer Buchseite umherkritzele, dann wird der Stift das Papier immer weiter aufrauen und sich irgendwann durch die Buchseiten fressen! Mal sehen, wie lange das dauert und an welchen Stellen es sich zuerst durchfressen wird!?“ (so oder ähnlich dachte vielleicht die Greifswalder Künstlerin Christin Schalko, bei der Anfertigung ihres Werkes „Lochfraß“, 2009). Ein anderes Beispiel: Der Künstler Marcus Oesterreich und ich haben zusammen selbst einen Nachmittag lang, auf einem großen freien Platz zwischen Hochhäusern, parkende Autos mit Kreppband umklebt. Einfach um zu sehen, wo Menschen ihre Autos abstellen. Am Ende gab es also lauter Kreppbandrechtecke auf dem Platz – eine schöne Straßenzeichnung. Das fand als „FLUX-touristen“ statt (Straßen-Kunstaktionen seit 2014, ursprünglich begleitend zur Ausstellung „Revolution der Romantiker. FLUXUS made in USA“ im Schweriner Landesmuseum).

 

Vermutlich gibt es viel wichtigere Forschung, muss doch keiner wissen, wie lange ein Stapel Papier stand hält oder wo Leute parken? Aber – wer so ran geht – da gibt es noch ganz andere Forschungszweige, die auch nicht mehr Rezipienten und Bedeutung haben. Aber – um nun nicht selbst mit einem Totschlagargument zu argumentieren – es wird natürlich sowieso immer wichtigeres geben als die eigene Beschäftigung. Schön ist doch aber, wenn man sich zu beschäftigen weiß und Freude daran hat, alltägliches neu zu entdecken. Wenn man also ein bisschen länger hinguckt oder zuhört und seinen Assoziationen uneingeschränkten Lauf lässt. Das ist natürlich Luxus. Am Rande: wer sich wirklich entscheidet, davon leben zu wollen, hat es schon hart genug. Da darf der Luxus beim Machen ruhig sein.

 

Oft gibt es eine Vorgeschichte, die

einem keine(r) erzählt

Vielleicht können vier-Jährige sogar oft mehr mit drapierten Holzstückchen anfangen, als ältere Leute. Das liegt aber nicht daran, dass die vier-Jährigen etwas wissen, was die älteren nicht wissen. Sie gehen nur anders ran. Haben hoffentlich noch einen verspielten Blick. Da ist es gut für die älteren, seriös gewordenen, wenn sie beim Kunst-Gucken einen jungen Menschen bei sich haben. Auch gut, wenn der oder die Künstler(in) ein bisschen Vorgeschichte oder zumindest ein Thema preisgibt. Dann fühlt sich keiner ausgeschlossen, sondern kann den Anschluss mit etwas Nachhilfe ganz leicht bekommen.

 

Gibt es keine Information von Seiten des oder der Künstler(in) oder nur ein Thema, dann sind eigene Assoziationsgabe, Auffassungsgabe, usw. gefragt. Was auch gut ist, da es sich dann wie Rätselraten anfühlen kann und am meisten Spaß mit anderen zusammen macht. Das kann eine abendfüllende Beschäftigung ergeben. („Und sind die Holzstückchen jetzt vielleicht Kontinente, die durchs Meer schwimmen?“, „Geht es darum, dass die nicht-geometrischen Holzstückchen in eine geometrische Form gebracht werden – ist es also nur ein ästhetisches Ding, ein Form-Kontrast?“, „Geht es um die Herrschaft des Menschen [geometrische Form, in Form pressen] über die Natur [abgerundete Treibholzstücke]?“, „Geht es darum, dass man Natur nicht zusammen puzzeln kann, wie man will? Es passt eben nicht so, wie Betonplatten.“ usw.)

 

In jedem Fall hilft ein bisschen Vorwissen oder Nachraten, um Kunst über ihre Oberfläche hinaus wahrnehmen zu können. Und das vergrößert – je nach Kunstsorte – den Genuss, die Diskussionsgrundlage, das emotionale Empfinden usw.

 

Aaalso…

Ich möchte zusammenfassen: Selbst, wenn die geliebten Enkelkinder es also könnten, so würden sie es doch nicht tun. Und das ist ein ebenso starkes Argument, wie die Feststellung, dass wir theoretisch alle bei der städtischen Müllreinigung arbeiten könnten, aber es doch nicht tun. Wenn es keiner machte, wäre der Zustand der Stadt bedauerlich.

Außerdem können es vier-jährige Enkeltöchter auch nicht so machen, weil sie anders machen würden. Trotzdem gebe ich zu, dass der Forschungs- und Experimentierdrang bei vier-Jährigen und Künstlertypen ähnlich ausgeprägt ist. Nur das Genaue, das Akribische, das Bewusste, die intellektuelle Herangehensweise, usw. – das ist bei den vier-jährigen noch nicht so stark ausgeprägt. Mit Erreichen all dieser Dinge und Fähigkeiten hört dann aber leider auch oft der Forscherdrang auf. Oder er entwickelt sich in eine gänzlich andere Richtung und die Kinder werden dann tolle Naturwissenschaftler(innen), Sprachforscher(innen) und anderes, was natürlich auch gut ist. Es bleibt, wie immer, dabei: alles ist auch Geschmacksfrage, aber lassen Sie doch, wenn möglich, von nun an die lieben Kleinen aus dem Spiel, wenn Sie das nächste Mal zeitgenössischer Kunst begegnen.

 

Martha Damus, Rostock, 2014

 

 

 

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